Schöner als die Milchstraße
Von Peter Berger
Die Vogelsanger Straße in Ehrenfeld ist das wohl kölschste Stück von Köln. Zwischen Gürtel und Innere Kanalstraße spaziert man durch aller Herren Länder. Und man schunkelt beständig hin und her - zwischen Weltmetropole und Kaffeebud.
Nicht besonders schön, dafür aber lebenswert: die Vogelsanger Straße in Köln-Ehrenfeld.
Nicht besonders schön, dafür aber lebenswert: die Vogelsanger Straße in Köln-Ehrenfeld. Ehrenfeld - Irgendwann steht jeder, der sich in Köln niedergelassen hat, vor diesem Problem. Es kommt der Tag, wo jeder, ob Eingeborener oder Imi, sich mit der Frage eines Außerirdischen, also eines Wesens, das nicht dauerhaft auf dem rheinischen Planeten beheimatet ist, konfrontiert sieht: „Du, sag mal. Was ist eigentlich ein Veedel?“ Ganz ehrlich. Ich hatte auch keinen blassen Schimmer, als es mich vor knapp 14 Jahren auf die Vogelsanger Straße verschlagen hat. Nach Ehrenfeld, zwischen Gürtel und Innere Kanalstraße, zwischen dem 4711-Gelände, das heute hochtrabend Barthonia-Forum heißt, und der ehemaligen Kwatta-Schokoladenfabrik.
Inzwischen bin ich schlauer. Heute habe ich mein eigenes kölsches Steigerungsprinzip: Veedel, veedeliger, Vogelsanger.
Weil meine Straße derart viele Geschichten erzählt, von kurios bis traurig, von unfassbar bis irre komisch. Geschichten von Menschen aus aller Herren Ländern. Vogelsanger Geschichten eben. Zum Beispiel die der beiden kleinen Jungs vermutlich aus dem Kosovo, die inzwischen leider weggezogen und wohl auch ein paar Jahre älter geworden sind. Die morgens um neun auf die Straße geschickt und abends um sieben wieder eingesammelt wurden. Echte Vogelsanger Straßenkinder eben - und meine „kleinen Dreckbären“. Auf die alle geachtet haben, selbst wenn sie kaum einer mit Namen kannte. Dreckbär der Ältere, ungefähr sechs Jahre, steht in der Vorweihnachtszeit im Supermarkt Kaufland plötzlich dem Nikolaus gegenüber. „Na, mein Kleiner, warst du denn auch artig?“ Dreckbär nickt, Nikolaus greift in seinen Sack und stellt fest: Da ist nichts mehr drin. „Tut mir Leid, mein Kleiner.“ „Macht nichts“, sagt Dreckbär der Ältere und klaubt zwei Überraschungseier aus dem Süßwarenregal. „Ich sag' an der Kasse Bescheid, dass ich dich getroffen habe.“
Nun ist auch in der Vogelsanger nicht immer Weihnachten. Weihnachten in der Vogelsanger ist endgültig vorbei, wenn der nach alter Tradition geschmückte Tannenbaum aus der Wohnstube der Bäckerei Schwickert verschwunden ist. Was sich bei rheinischen Katholiken durchaus bis Mariä Lichtmess, dem vierzigsten Tag nach Weihnachten, hinziehen kann. Die Stammkunden wissen das - und Schwickert hat sehr viele Stammkunden. Was unter anderem an den Brötchen liegt, die derart braun gebrannt und knusprig sind, dass beim Hineinbeißen die Krümel nur so um sich fliegen, weshalb Frühstücken und Staubsaugen auf der Vogelsanger vermutlich untrennbar miteinander verbunden sind.
Je nach Brötchenholzeit beginnt der Morgen mit einem Konzert, das aus den Proberäumen der Rheinischen Musikschule schallt. Oder mit den letzten Nachtschwärmern und den leichten Mädchen, die das „Römerbad“ verlassen. Das liegt gleich um die Ecke und zählt zu jenen Orten, die alle Nachbarn (vermutlich) nur von außen kennen, aus dessen Kellerfenstern es nach Chlor und Schwimmbad riecht, die aber wohl für immer unerreichbar sein werden. Allein schon aus Kostengründen.
„Taxifahrer, bitte Motor abstellen“, steht in der Hofeinfahrt neben römischen Wandgemälden, die so aussehen, als seien sie von einem Kunstmaler geschaffen, der ansonsten für das Interieur griechischer Imbissbuden verantwortlich zeichnet. Warum die Taxifahrer vor einem Edel-Puff den Motor abstellen? Es hat Jahre gebraucht, bis ich mich getraut habe, dieses Geheimnis vor Ort zu erkunden, also einfach mal einen Taxifahrer zu fragen. Weil sie eine Provision ausgezahlt bekommen für jeden Römer, den sie durch die Hofeinfahrt zum Bade bringen.
Deutlich preiswerter ist der Besuch in der neuesten Errungenschaft der Vogelsanger und ihrer Bewohner. Zwischen dem Griechen-Imbiss „Bei Kiki“, der übrigens ganz ohne Wandgemälde auskommt, und dem Raumausstatter an der Ecke ist Hollywood. Genauer gesagt: die Hollywood Bar, „der neue Stern am Kölner Himmel“, deren Shows „eine bunte Vielfalt von Gesang über Travestie bis zum Show Act darstellen“.
So steht's im Internet und schon rein äußerlich sticht die neue Location aus den eher tristen und mit Graffiti und Tags übersäten Hausfassaden hervor. Rote Klebebuchstaben auf weißem Holz, umrahmt von einer Dreierreihe aus bunten Baumarkt-Lichterketten, die irgendwie durch die Fassade ins Innere verschwinden. Dazu zwei rustikale Früh-Kölsch-Laternen. Kölsch und Hollywood. Das ist Veedel. Besser kann man die kölsche Lebensweise, die der Psychologe Stephan Grünewald als Dauerschunkeln zwischen dem Anspruch einer Weltmetropole und der Gemütlichkeit einer Kaffeebud charakterisiert hat, kaum umschreiben.
Dieses Faszinosum ist hier, auf der Vogelsanger, an einer einzigen Ecke anzutreffen. Oder anders gesagt: Zusammen mit der klassischen Eck-Kneipe „Em Backes“ bilden Römerbad und Hollywood-Bar das schwarze Loch des rheinischen Planeten. Wen es dort hinabgezogen hat, der dürfte Schwierigkeiten haben, jemals wieder aufzutauchen. Fort für immer? Reizvoll wäre das schon. Aber dazu ist es im zarten Alter von 50 vielleicht noch ein wenig zu früh. Dafür ist das Leben in der Vogelsanger einfach zu schön und zu kölsch.
Meine Straße ist aber auch Schauplatz grausamer Schicksale. Mitten auf einer Insel, an der Ecke Geisselstraße, steht Kölns ärmstes Verkehrsschild. Ein unschuldiger weißer Pfeil auf blauem Grund, der nach unten zeigt und nichts anderes will als sagen: Bitte, bitte, fahrt doch rechts an mir vorbei.
Es ist jetzt acht Jahre her, seit ich mich seinem trostlosen Dasein zum ersten Mal mit einem Beitrag im Kölner „Express“ gewidmet haben. Abgeknickt, umgenietet, platt gefahren - mindestens dreimal pro Monat. Die Straßenarbeiter der Stadt hatten ein Erbarmen und haben Kölns traurigstes Blechschild zwischenzeitlich mit einem Federbein ausgestattet. Jetzt sieht es aus wie ein Eisvogel, der auf einem Bein auf einer Insel herumhüpft. Bis der nächste Brummi seinem Leben mal wieder ein Ende setzt.
Und wer genauer hinschaut, auf den rissigen Asphalt mit den Schlaglöchern, die der Winter auf der Vogelsanger hinterlassen hat, wird verblasste blaue Striche entdecken, die Jahr für Jahr die Ideallinie des Köln-Marathon markieren. Wenn ich am ersten Sonntag im Oktober an meiner Haustür vorbeilaufe, mich Freunde und Nachbarn anfeuern, weiß ich genau: Auch wenn alles schmerzt, umkehren wäre auch jetzt sinnlos, 500 Meter hinter der Halbmarathon-Marke. Und wer hat schon das Privileg eines privaten Verpflegungsstands vor seiner Haustüre? Nicht einmal die Läufer-Legende, der Weltrekordler Haile Gebrselassie, dem ich zu gerne mal erklären würde, was ein Veedel ist.
Das könnte der schönste Tag des Jahres auf meiner Vogelsanger sein, wäre da nicht der Rosenmontag, genauer gesagt, der frühe Morgen des Rosenmontag. Da stehe ich Jahr für Jahr um sieben Uhr im Schlafanzug an meinem Fenster - und unter mir rollt d'r Zoch vorbei. Im Schnelldurchlauf, alle Wagen, ohne Kamelle, ohne Tschingderassabumm, ohne tausend Meter Rote und tausend Meter Blaue Funken. Ohne langweilige Kommentare - einfach nur ein „herrliches Bild“. D'r Zoch pur, auf seiner Fahrt vom Karnevalsmuseum am Maarweg zur Aufstellung in der Südstadt.
Welch' ein Schauspiel. In diesem Jahr habe ich mein Fenster geöffnet und mit Schwung ein paar Kamelle auf die Vogelsanger geworfen. Um ehrlich zu sein: Es waren gar keine Kamelle, sondern ein paar Eukalyptus-Bonbons, die noch irgendwo in der Küche herumlagen. Und bin nach diesem großartigen Wurf still und vergnügt zurück ins Bett gegangen.
Sollte irgendwo ein Außerirdischer, der den rheinischen Planeten nicht kennt, diese Szene beobachtet haben, er wird sofort verstehen, warum die Vogelsanger so einmalig ist - und schöner als die Milchstraße.
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meine Mutter hat den Artikel aus dem Stadtanzeiger gelesen und meine Straße nicht wieder erkannt...
Ihr erste Frage war: Warum gehen wir immer zum Bäcker gegenüber mit den schlechten Brötchen, wenn es doch einen Guten gibt... die Aufklärung, dass der Bäcker gegenüber der erwähnte ist war auch für sie nicht nachvollziehbar... egal... ich mag die große hässliche Straße... den Hinterhof von Ehrenfeld
2 Kommentare:
als jahrelanger Hausbesetzter in der Vogelsanger Strasse muss ich sagen : wunderschön und mit viel Liebe geschrieben.
und als Geheimtipp den Rosenmontagszug vor allen anderen sehen : Herrlich.
Die hierauf wohlwollend erteilten Immigrationspluspunkte werden auf das Einbürgerungsexamen angerechnet. M'r schwöööre dat!
Die Eingeborenen (vun Trizonesien) wissen: D'r Zoch jejt falsch erum! Leider führt Deine Kamelleattacke nicht zu einem Umdenken. Kannst Du 2011 bitte Kalorienbomben werfen? Diese Eukalyptusdinger nehmen noch nicht mal Koalas ernst.
Weil et in Kökn keene Schrippen jibt, schmecken auch die knusprigsten Brötchen irgendwie seltsam. Tip der Redaktion: Mit Schultheiss spülen hilft manchmal.
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