weil WM ist ;-)
"Liebe auf den zweiten Blick" von Philipp Terkampe
Jens Lehmann holt seinen Zettel aus dem Stutzen. Trotz der vielen Tausend Fans beim Public Viewing am Deutzer Rheinufer breitet sich eine angespannte Stille über dem Platz aus. Alle starren auf die Großleinwand oder mustern nervös die um sie herum Stehenden. Immer mehr Freunde und Unbekannte legen sich die Arme über die Schultern, um gemeinsam zu feiern oder zu leiden. Da ich ganz außen in meiner Truppe bin, ist mein linker Arm frei für eine fremde Schulter.
Der Blick zur Seite ist allerdings wenig verlockend. Der knapp zwei Meter große und sicher 120 Kilo schwere Rocker scheint der Einzige auf dem ganzen Platz zu sein, der völlig alleine gekommen ist. Skeptisch mustert er mich kurz und dreht mir dann wieder den Rücken zu. Die Buchstaben „Hel-„ und „–ngels“, die rechts und links von seinem Muskelshirt auf seinen breiten Schultern tätowiert waren, zu sinnvollen Worten zusammenzusetzen, ist kein besonders schweres Rätsel. Die Lösung bestärkt mich in meiner Ansicht, nicht aufdringlich zu werden.
Außerdem fordert das Geschehen auf der Leinwand wieder meine volle Aufmerksamkeit. Eigentlich kann ich Jens Lehmann nicht besonders gut leiden, aber in diesem Moment bin ich bereit, ihn zumindest kurzfristig zu lieben. Sekunden werden zu Stunden als Cambiasso sich bereit macht. Die Finger meines Kumpels auf der rechten Seite bohren sich vor Anspannung schmerzhaft in meine linke Schulter. Jetzt bin ich froh, mich nicht mit dem gewaltigen Hells Angel verbrüdert zu haben. So wie der aussieht, könnte der meine Schulter glatt zerquetschen.
Cambiasso läuft an, schießt, der Ball ist gefühlte Minuten in der Luft, dann hält Lehmann und für einen kurzen Moment liebe ich ihn wirklich. Alle Dämme brechen. Ich umarme alle meine Freunde und auch ein paar Menschen, die ich noch nie gesehen habe. Eigentlich ist der gesamte Platz eine gewaltige Knuddel- und Jubelorgie. Nur mein bärtiger Rockernachbar steht immer noch wie ein Fels in der wogenden Brandung. Irgendwann habe ich alles geherzt, was sich in meiner Nähe befand und betrachte aufgewühlt das Chaos um mich herum.
Dann treffen sich unsere Blicke. Ich sehe Zögern und Unsicherheit in seinen Augen, doch aus seinem Körper war schon jede Reserviertheit gewichen. Noch einen kurzen Moment des Zögerns gibt es, dann denken wir uns beide gleichzeitig: Ach, was soll´s! Vermutlich hätte ich auch mit Gegenwehr keinerlei Chance gehabt. Er umarmt mich erst schüchtern, aber dann umso beherzter. Dabei schreit er seinen Jubel heraus. Anscheinend mag er Jürgen Klinsmann. Ich bin mir sicher, eine echte Träne zu sehen, die über die unter seinem Auge tätowierte rollt. Dann packt er mich und prompt befinden sich meine Füße zwanzig Zentimeter über dem Boden. Dadurch ist mein Gesicht genau vor seinem. Und völlig unerwartet küsst er mich. Er drückt mir einen dicken Schmatzer mitten auf den Mund. Um mich dann, schockiert über seine eigene Tat, einfach fallenzulassen und hektisch in der Menge zu verschwinden.
Ich bleibe völlig konsterniert stehen. Und das erstaunlichste ist. Er hat nach Erdbeere geschmeckt.
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